Unbegleitet? Niemals!
Erfahrungen von drei Pflegeeltern
Wir haben die Pflegemutter eines Kindes und die Pflegemutter und den Pflegevater von drei Kindern zu ihren Pflegeverhältnissen befragt. Erfahren Sie hier, was sie bewogen hat, mit Espoir zusammenzuarbeiten, welche Erfahrungen sie in dieser Zusammenarbeit machen, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen und welches die schönsten Momente mit ihren Pflegekindern waren. Aus Persönlichkeitsschutzgründen haben wir die Namen der Pflegeeltern und -kinder geändert.
Seit wann haben Sie ein Pflegekind bzw. -kinder?
Sonja R.*: Jan*, unser Pflegesohn, ist am 15. Juli 2017 mit 1,5 Jahren zu uns gekommen, unsere leibliche Tochter war damals 4,5 Jahre alt. Neben seinem Geburtstag feiern wir auch diesen Tag jedes Jahr gemeinsam.
Judith und Rolf H.*: 2008 ist das erste Pflegekind zu uns gekommen, 2013 das zweite, 2014 das dritte. Teilweise haben sich die Pflegeverhältnisse einige Monate überschnitten. 2015 waren alle abgeschlossen. Unsere jetzigen Pflegekinder, die drei Geschwister Laura* (12), David* (9) und Noah* (7), leben seit 2016 bei uns. Unsere eigenen sechs Kinder sind inzwischen erwachsen und eigenständig.
Was hat Sie bewogen, das Pflegeverhältnis durch Espoir begleiten zu lassen? Welche Erwartungen haben Sie an Espoir?
Sonja R.: Wir haben uns nach der nicht einfachen Geburt unserer Tochter überlegt, ein weiteres Kind zu adoptieren und sind darüber dann auch auf die Möglichkeit gestossen, ein Pflegekind aufzunehmen. Hinzu kam, dass mein Mann und ich beide Freunde und Bekannte hatten, die mit Pflegekindern aufgewachsen sind oder selbst welche bei sich aufgenommen hatten und wir das sehr positiv erlebt haben. Auf Espoir wurden wir durch eine Freundin aufmerksam. Ich bin so froh, dass wir Espoir im Rücken haben! Mit jedem Problem können wir uns an unsere Koordinatorin (heute: Familienberaterin) wenden. Sie entlastet uns, indem sie die Kontaktperson für die Sozialbehörden ist und wir uns um Jans Erziehung und die Alltagsfragen kümmern können.
Judith H.: Ich habe mal eine Infoveranstaltung zu begleiteten Pflegeplatzierungen besucht, dort hat eine Pflegefamilie von Espoir aus ihrem Alltag berichtet. Sicher hat auch eine Rolle gespielt, dass Rolfs Bruder ein Pflegekind hatte.
Rolf H.: Das stimmt. Aber er und seine Frau wurden dabei nicht begleitet, sie mussten selber alle Kontakte mit der zuständigen Behörde wahrnehmen. Alles, was bei uns die Koordinatorin übernimmt, mussten sie selbst erledigen. Diese Energie und Zeit, die es für das ganze Drumherum braucht, fehlt dann für die Pflegekinder.
Judith H.: In unserem jetzigen Pflegeverhältnis wäre das undenkbar. Ich würde das gar nicht schaffen ohne Koordinatorin. Ich muss so präsent sein für die Kinder.
Bitte schildern Sie den Platzierungsprozess. Wer war involviert?
Sonja R.: Wir waren in den Ferien, als wir eine Nachricht von der Fachleiterin Alexandra Neuhaus erhielten, sie habe einen Vorschlag für eine Platzierung. Wir waren damals in der Warteposition und hatten sehr auf so einen Anruf von Espoir gehofft. Wir bekamen Fotos von Jan und mein Mann und ich haben ihn im Kinderheim besucht. Drei Monate lang habe ich Jan jeden zweiten Tag im Kinderheim besucht, irgendwann durfte ich mit ihm und seiner Begleitperson mal das Kinderheim verlassen und spazieren gehen. Später durfte ich ihn mal mit zu uns nach Hause nehmen, wo er seinen Mittagsschlaf machte. Das war ein langsamer Prozess in kleinen Schritten. Zum Ende hin war er dann schon mehr bei uns als im Heim. Als ich ihn dann das letzte Mal zum Schlafen ins Heim zurückgebracht habe, hat er so bitterlich geweint. Da wusste ich: Jetzt ist es gut, er kann zu uns kommen. Die zuständige Koordinatorin von Espoir hat diesen Prozess im Hintergrund begleitet und als Jan dann bei uns war, uns regelmässig besucht. Sie war eine sehr grosse Stütze für mich, als ich nach ca. drei Wochen Zweifel bekam. Ich hatte erfahren, dass die Grosseltern gar nicht mit Jans Platzierung einverstanden waren und hatte plötzlich Angst, dass ich diesem Widerstand nicht gewachsen bin. Unsere Koordinatorin hat daraufhin ein Gespräch zusammen mit der Beiständin einberufen. Ich bekam mehr Hintergrundinformationen und konnte danach alles besser einschätzen und Verständnis für die Herkunftsfamilie aufbringen. Ich war danach überzeugt, dass unser Pflegeverhältnis gut verlaufen wird.
Judith H.: Wir wurden für eine SOS-Platzierung für Laura, David und Noah angefragt, auf maximal sechs Monate befristet. Aufgrund der akuten Gefährdungslage in ihrer Familie waren sie innerhalb einer Woche bei uns, begleitet durch den Beistand und eine ihnen vertraute Begleitperson. Das war für die Kinder ein ganz schwieriger Moment, was ihre gemeinsame «Überlebens»- Beziehung nochmals untermauert hat.
Rolf H.: Sie haben Traumatisches erlebt und wurden immer gegeneinander ausgespielt. Noah hat beispielsweise immer alles bekommen, die anderen nichts, er hat drei Osterhasen bekommen, seine Geschwister keine, aber er hat immer mit ihnen geteilt, wenn die Eltern es nicht bemerkt haben. Sie sind sehr aufeinander angewiesen. Das haben wir alles nach und nach erfahren.
Eine Pflegefamilie ist in gewisser Weise eine «öffentliche Familie». Mit der Aufnahme eines Pflegekindes treten auch verschiedene Fachpersonen u.a. von Sozialbehörden, Espoir sowie die Herkunftsfamilie in ihr Familienleben. Wie gehen Sie als Kernfamilie damit um?
Sonja R.: Der Einblick in unser Leben durch die Koordinatorin stört mich und meine Familie gar nicht, im Gegenteil. Sie ist eben eine Vertrauensperson für uns. Der jährliche Aufsichtsbesuch durch die Sozialbehörde auch nicht. Etwas zeitaufwendig war es beispielsweise, die ID für Jan zu bekommen. Es braucht natürlich die Unterschrift der Mutter und bei Reisen ins Ausland müssen wir diverse beglaubigte Dokumente mitführen, dass Jan unser Pflegesohn ist. Aber das ist alles gut zu handhaben, braucht eben etwas Vorlauf in der Reisevorbereitung. Als Kernfamilie können wir gut damit umgehen und sind unserem Umfeld gegenüber offen. Die Freundinnen meiner Tochter wissen, dass Jan unser Pflegesohn ist. Eigentlich spielt das gar keine Rolle, obwohl Jan im Moment ziemlich eifersüchtig auf seine Schwester ist, weil sie in meinem Bauch war und er nicht. Er realisiert den Unterschied in bestimmten Situationen schon, aber im Alltag ist er vollständig in unsere Familie integriert und für unsere Tochter ist es ihr Bruder.
Judith H.: Die Pflegeaufsicht unseres Kantons kommt einmal jährlich zu uns, zweimal jährlich haben wir ein Standortgespräch mit der Beistandsperson bei uns zu Hause und regelmässige Besuche durch die Espoir-Koordinatorin. Je länger ich Pflegemutter bin, desto leichter fällt mir das. Es stresst mich persönlich nicht.
Rolf H.: Mich auch nicht, aber ein gewisser Druck von aussen ist spürbar. Wir sind vorsichtiger als bei den eigenen Kindern. Beispielsweise gehen wir mit den Pflegekindern eher zum Arzt, um uns abzusichern.
Judith H.: Gewisse klärende Gespräche mit irritierten Nachbarn waren nötig, zum Beispiel, als eines unserer Pflegekinder behauptete: «Judith hat gesagt, wenn ich nicht genügend esse, dann sterbe ich.» Ich erfahre durchwegs Verständnis und Wohlwollen, wenn ich das Umfeld offen informiere, dass unsere Pflegekinder sich vielleicht manchmal anders als die so genannte Norm verhalten, weil sie Traumatisches erlebt haben, natürlich ohne auf Details einzugehen.
Rolf H.: Unsere eigenen Kinder waren bis auf unseren jüngsten Sohn bereits ausgezogen, als die drei Pflegekinder zu uns kamen. Natürlich haben wir das mit ihnen besprochen. Ein Teil unserer Kinder war dagegen, der andere dafür.
Judith H.: Doch wir mussten uns fragen, wie viel Gewicht die Meinung unseres erwachsenen Sohnes hat, der auf dem Sprung in die Selbstständigkeit ist. Die Entscheidung war ein Kraftakt für uns. Doch schliesslich ist es unsere Aufgabe und unser grosses Anliegen, uns um Pflegekinder zu kümmern und sie in ihrer Entwicklung zu selbstbestimmten Menschen zu unterstützen. Genauso, wie wir es bei unseren inzwischen erwachsenen eigenen Kindern getan haben.
Beschreiben Sie bitte, wie Sie und Ihr/e Pflegekind/er in der ersten Phase der Platzierung begleitet wurden. Und wie Sie und Ihr/e Pflegekinder aktuell im Alltag begleitet werden.
Sonja R.: Zu Beginn der Platzierung brauchte ich eine intensive Begleitung, vor allem als ich meine Zweifel hatte, ob ich das schaffen würde. Aktuell besucht uns die Koordinatorin alle zwei Monate. Wir besprechen die aktuelle Situation, eventuelle Probleme und sie nimmt sich auch Zeit für Jan. Er zeigt ihr dann sein Zimmer oder neue Spielsachen.
Judith H.: In der ersten Phase haben uns Espoir und der Beistand der Kinder eng begleitet, da es sich zu Beginn um eine verdeckte Platzierung handelte. Inzwischen ist das offengelegt. An der letzten Standortsitzung hat die Mutter erstmals ganz beiläufig erwähnt: «Die Kinder sind ja jetzt an einem guten Ort.» Diese veränderte Haltung wirkt sich auch positiv auf die Kinder aus. Wir haben uns über ihre Aussage sehr gefreut.
Was schätzen Sie an der Begleitung durch den/die Espoir-Koordinator/in, was gefällt Ihnen daran weniger?
Sonja R.: Das grosse Vertrauensverhältnis zu unserer Koordinatorin – ich fühle mich total unterstützt. Sie handelt schnell und sucht nach Lösungen für Probleme.
Judith H.: Über die Koordinatorin von Espoir sind wir sehr glücklich. Ich kann sie jederzeit anrufen, egal ob es um Reisedokumente geht, um Schulprobleme, um das Verhalten unter den Geschwistern, um Kontakte zu den Sozialbehörden oder das Aufgleisen der Psychotherapie für die Kinder.
Rolf H.: Wir schätzen ihr Fachwissen sehr, sie versteht uns wirklich. Es ist ein Riesenunterschied, ob ein Pflegeverhältnis begleitet oder unbegleitet ist, wenn ich an das Beispiel meines Bruders denke. Ohne Koordinatorin hätten wir wohl aufgegeben. Sie hat die Entlastungsfamilien für die Kinder gesucht, damit wir mal durchschnaufen können. Sie macht die ganze Entlastungsplanung fürs Jahr, sie schreibt Berichte und beantragt Kostengutsprachen, berät uns in Erziehungsfragen und vieles mehr.
Was schätzen Sie an dem gesamten Angebot von Espoir?
Sonja R.: Schön ist, dass wir durch Espoir andere Pflegefamilien kennen und uns mit ihnen austauschen können. Auch für Jan und unsere Tochter ist das wertvoll. Sie sehen, dass es andere Kinder mit gleicher Familienkonstellation gibt. Diese Austauschmöglichkeiten schätze ich auch an der Weiterbildung für Pflegefamilien, die ich gerade bei der Schule für Sozialbegleitung absolviere. So richtig verstehen, wie ein Familienalltag mit einem Pflegekind ist, kann nur eine Pflegefamilie. Die Supervisionen helfen uns auch sehr in unserem Alltag als Pflegefamilie.
Judith H.: Wir haben fünfmal pro Jahr Einzelsupervision, was wir enorm schätzen, denn mit drei Pflegekindern haben wir eine ganz eigene Problemvielfalt, die in Gruppensupervisionen nicht genug Raum finden würde. Wir fühlen uns sehr gestützt durch die fachlichen Inputs, die wir dort für das Zusammenleben mit unseren Pflegekindern und ihrer schwierigen Lebensgeschichte bekommen.
Rolf H.: Zum Beispiel helfen uns in schwierigen Situationen die Hilfsmittel, die wir mit der Koordinatorin und der Supervisorin entwickelt haben. Von Espoir wünschte ich mir ein grösseres themenorientiertes Weiterbildungsangebot, insbesondere für traumatisierte Kinder.
Wie gestaltet sich der Kontakt zur Herkunftsfamilie Ihres/Ihrer Pflegekinder?
Sonja R.: Inzwischen sehr gut. Jan hat regelmässige Besuchskontakte zu seiner Mutter und seinen Grosseltern, die durch Espoir begleitet werden. Sie alle wollen nur das Beste für ihn und sehen, dass es Jan bei uns gutgeht. Dieses gute Verhältnis haben wir uns durch gegenseitige Wertschätzung erarbeitet. Anfänglich gab es grosse Widerstände seitens der Grosseltern, die Jan eigentlich zu sich nehmen wollten, aber überfordert waren. Jans Mutter war jedoch von Anfang an mit der Pflegeplatzierung einverstanden. Inzwischen erhalten wir so dankbare Briefe von den Grosseltern, wir feiern beispielsweise gemeinsam Weihnachten bei Espoir. Wir schätzen das alle sehr und Jan am meisten, er spürt die Harmonie zwischen den Erwachsenen und muss sich nicht für oder gegen eine Seite entscheiden. Das ist sicher nicht bei jedem Pflegeverhältnis so.
Judith H.: Der Besuchskontakt zur Herkunftsfamilie (Eltern, Grosseltern) findet alle zwei Monate statt, begleitet von den zuständigen Sozialen Diensten. Eines der Pflegekinder hat einen anderen Vater, den es aber auch regelmässig sieht.
Würden Sie sich wieder für eine begleitete Pflegeplatzierung entscheiden?
Sonja R.: Etwas anderes käme für mich nicht in Frage. Ich glaube, dass die wenigsten das alleine schaffen würden. Auch das sorgfältige Auswahlverfahren und die Vorbereitung auf die Aufgabe als Pflegeeltern, wie es Espoir anbietet, sind ganz wichtig.
Judith und Rolf H.: Ja, jederzeit!
Was raten Sie Eltern, die sich für die Aufgabe als Pflegeeltern interessieren?
Sonja R.: Ich denke, man sollte sich im Voraus mit dem Thema ausführlich befassen, dafür war für uns der Vorbereitungskurs bei Espoir sehr hilfreich. Aber trotzdem sollte man sich nicht zu viele Sorgen machen. Es kommt sowieso anders, als man denkt und man kann gar nicht viel im Voraus planen, sondern wird ins kalte Wasser geworfen. Entspanntheit und sich bewusst darauf einlassen helfen sicher dabei. Ich kann es von Herzen nur allen empfehlen.
Judith H.: Lasst euer Pflegeverhältnis begleiten. Wenn die Behörden die Kosten dafür nicht übernehmen, Finger davon lassen!
Rolf H.: Sucht den Kontakt zu Pflegeeltern, um etwas über den Alltag als Pflegefamilie zu erfahren. Geht sorgsam mit euch selbst um. Nur wenn es einem selbst gutgeht, geht es den Kindern auch gut.
Judith H.: Sucht euch unbedingt eine eigene Kraftquelle neben den Kindern, wo ihr Energie tanken könnt.
Schildern Sie bitte Ihre schönsten Momente sowie Ihre grössten Herausforderungen, die Sie als Pflegeeltern bisher erlebt haben.
Sonja R.: Es gibt immer wieder anstrengende Momente. Sehr herausfordernd sind seine Tobsuchtsanfälle, die er hin und wieder hat. Die schönsten Momente für mich sind, wenn wir zu viert in den Ferien sind, ein Kind links, ein Kind rechts an der Hand. Ich fühle mich komplett, seit Jan bei uns ist. Jan sagt immer, er bleibe bei uns, bis er ganz alt ist und wenn er später mal eine Frau und Kinder haben wird, die auch.
Judith H.: Meine grösste Herausforderung im Alltag ist, im Selbst zu bleiben, mich beispielsweise nicht anstecken zu lassen von der schlechten Laune der Kinder. Das gelingt mir immer besser. Unser Fachwissen über traumatisierte Kinder hilft uns dabei. Seit ich weiss, dass die Kinder mir ihre Ohnmacht übergeben wollen in der Übertragung**, kann ich besser damit umgehen und besser darauf reagieren. Einer der schönsten Momente war, als wir nach einer Hüttenwanderung gemeinsam mit den Kindern auf dem Calanda gestanden haben.
Rolf H.: Und wenn wir alle gemeinsam im Auto singen, was das Zeug hält. Es ist schön, in solchen Momenten die Gelöstheit der Kinder zu spüren.
Interview: Oda Heine, Mitarbeiterin Espoir
*Alle Namen geändert
** Übertragung bedeutet der Transfer von unbewussten psychischen Vorgängen, Erwartungen, Wünschen, Befürchtungen oder Vorstellungen auf ein bestimmtes Individuum, die ursprünglich einer früheren Bezugsperson (z.B. Vater, Mutter) gegolten haben. Quelle: flexikon.doccheck.com/de