«Pflegeeltern sein ist wie die asiatische Weisheit vom Sprung in der Schüssel»
Familie Zehnder* wohnt ländlich in einem schönen grossen Haus mit Garten und Hund. Marianne* und Reto* Zehnder haben drei erwachsene Söhne und sind kürzlich stolze Grosseltern geworden. Bei ihnen wohnen noch der 18-jährige Pflegesohn Luca* und die 13-jährige Pflegetochter Michelle*. Sie geben uns in diesem Interview aus dem Bulletin 2013 Einblick in ihren Familienalltag.
Warum und wie lange lebst du bei deiner Pflegefamilie?
Michelle: «Seit ich vier Monate alt bin, lebe ich hier, weil ein Obhutsentzug der Behörde vorlag.»
Marianne Zehnder: «Luca erzählt, er sei bei uns, weil seine Eltern nicht fähig waren, sich um ihn zu kümmern. Sie waren immer betrunken und es gab nie genug zu essen. Er ist im Alter von fünf Jahren zu uns gekommen und war unterernährt. Ihm war nicht bewusst, dass seine inzwischen verstorbene Mutter Depressionen hatte. Häufig musste er sie betrunken nach Hause begleiten. Diese Erlebnisse prägen ihn bis heute. Luca hortet bis heute Essen aus der Angst heraus, er müsse wieder hungern.»
Welche Hobbys hast du, Michelle?
Michelle: «Ich bin im Jodelverein, spiele Schwyzerörgeli und bin im Theaterclub, in dem Kinder bis 15 Jahre einmal pro Jahr ein Theaterstück einstudieren und aufführen.»
Was ist dein grösster Wunsch?
Michelle: «Ich möchte eine Weltreise machen, später mal ganz viele Kinder haben und Bäuerin werden. Das Landleben mit vielen Tieren gefällt mir gut. Was ich mir am meisten wünsche oder besser, was ich am meisten will, ist, so zu heissen wie meine Pflegeeltern. Mich nervt es, immer erklären zu müssen, warum ich anders heisse als sie.»
Marianne Zehnder: «Wir prüfen mit allen verantwortlichen Stellen, ob sich dieser Wunsch erfüllen lässt. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Adoption. Es geht lediglich um eine Namensänderung.»
Unterscheidet sich die Erziehung Ihrer eigenen Kinder von der Ihrer Pflegekinder?
Marianne Zehnder: «Ja, es gibt Unterschiede, denn unsere Pflegekinder bringen beide einen Rucksack mit belastenden Erfahrungen aus ihrem Herkunftsumfeld mit. Beide Kinder besuchen oder besuchten Therapien, um die traumatisierenden Erlebnisse zu verarbeiten. Das allein fordert eine andere, intensivere Aufmerksamkeit und Zuwendung bei der Erziehung als bei unseren eigenen Kindern. Als Pflegeeltern fühlt man sich besonders stark verantwortlich, den Pflegekindern die beste Chance fürs Leben zu geben und sie so vielseitig wie
möglich zu fördern. Michelle hat bis vor kurzem Ritalin eingenommen und parallel dazu eine Psychotherapie gemacht. Luca hatte übrigens früher die gleiche Therapie. Michelle hat grosses Vertrauen zu ihrer Therapeutin, die eine spezielle Trauma-Ausbildung hat.»
Michelle: «Eigentlich müsste ich nicht mehr zur Therapeutin, aber ich spreche gerne mit ihr über alles, zum Beispiel über meine Mutter, deshalb besuche ich sie auch weiterhin.»
Gibt es Kontakt zur Herkunftsfamilie?
Marianne Zehnder: «Das gestaltet sich schwierig. Michelles Vater ist unbekannt. Michelles Mutter hatte früher begleitetes Besuchsrecht bei Michelle, aber meistens hat sie kurz vor den Besuchsterminen wieder abgesagt oder ist nicht erschienen, so dass die Sozialbehörden und Espoir diese Besuchsregelung aufgehoben haben. Seit Michelle bei uns lebt, hat ihre Mutter sie 29-mal gesehen, das ist in rund 13 Jahren nicht viel. Wir haben sie sehr oft zu uns eingeladen, aber sie hat es einfach nicht geschafft, zu kommen. Das hängt mit ihrer Drogensucht und ihren Lebensumständen zusammen. Wegen Drogendelikten ist sie zurzeit wieder im Gefängnis. Dann hat sie viel Zeit und schreibt vermehrt Briefe an Michelle, aber diese Kontaktaufnahmen passieren eben nur sehr sporadisch und sind dann nicht so förderlich für die Beziehung zu Michelle. Dennoch ist die Mutter jederzeit bei uns willkommen, allerdings muss Michelle es auch wollen. Sobald das der Fall ist, werden wir sie erneut zu uns einladen. Momentan will Michelle keinen Kontakt und das wird auch vom Beistand und Espoir so unterstützt. Zu Lucas Eltern bzw. Vater, seine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, haben wir regelmässigen Kontakt.»
Michelle: «Als ich klein war, habe ich meine Mutter öfter getroffen. Im Moment möchte ich sie aber gar nicht mehr sehen. Sie hat es verspielt bei mir. Sie hat sich nie um mich gekümmert und nun will sie wieder Kontakt. Jetzt will ich aber nicht mehr.»
Was fordert Sie bei der Betreuung Ihrer Pflegekinder am meisten heraus?
Marianne Zehnder: «Michelles Pubertät. Sie ist phasenweise sehr aggressiv, sowohl verbal als auch körperlich, indem sie teilweise um sich schlägt. Ich habe den Eindruck, dass Michelle in diesen Situationen ihre Wut über ihre Mutter an mir auslässt, denn ich bin auch Frau und Mutter. Sie tut dies sicher nicht bewusst. Diese Ausbrüche von ihr sind sehr «happig» und anstrengend. Hier sind unsere Söhne eine Entlastung. Vor allem der jüngste Sohn vermittelt in eskalierenden Situationen. Zum Beispiel als Michelles engste Freundinnen sie mit Nichtachtung bestraft haben, nachdem Michelle einer von ihnen anvertraut hatte, dass sie etwas gestohlen hatte. Man konnte das schon als Mobbing bezeichnen, was Michelle sehr hart getroffen hat. Auf Rat des Therapeuten hat dann unser Sohn ein klärendes Gespräch mit den Freundinnen geführt und die Situation wieder entschärft. Eine ähnliche Erfahrung hat Michelle gemacht, als sie Freundinnen anvertraute, dass ihre Mutter im Gefängnis ist. Eine Welle von Ablehnung war die Reaktion.»
Was ist Ihre grösste Angst in Bezug auf Ihre Pflegekinder?
Marianne Zehnder: «Im Moment habe ich keine Angst um Michelle, sie wird ihren Weg gehen. Sie hat zwar eine grosse Rechenschwäche. Deswegen besucht sie aber eine Dyskalkulietherapie. Als Michelle klein war, hatte ich die diffuse Angst, dass ihr Vater auftaucht und sie entführt. Da wir nichts Konkretes über seine Existenz wissen, ist er wie ein Phantom.»
Welches war Ihr schlimmster Moment als Pflegeeltern?
Marianne Zehnder: «Als Luca vor zwei Jahren fast unser Haus abgebrannt hat. Wir wollten ein Wochenende verreisen und Luca sollte seine extreme Unordnung in seinem Zimmer aufräumen. Er war ziemlich gereizt, bevor wir losfuhren. Er hatte sämtliche Schubladen seiner Schränke und Kommoden mitten im Zimmer ausgeleert. Wir hatten keine Ruhe und schauten vorsichtshalber nochmal nach ihm. Als ich die Haustür öffnete, gab es zwei Explosionen, die Scheibe des Cheminées flog heraus, der Holzfussboden im Wohnzimmer brannte. Er hatte mit Fondue-Anzündpaste ein grosses Feuer entfacht. Er ist durchgedreht, es war eine Abspaltung seiner Persönlichkeit. Dann verschwand er sehr schnell und hinterliess einen Brief, dass er sich umbringen wolle. Das war Alarmstufe Rot für uns. Luca hat nämlich auch Depressionen, genau wie seine manisch-depressive Mutter sie hatte. Wir haben die Situation gemeinsam mit seinem Vater in den Griff bekommen. Auch Luca hat dieses Erlebnis als den schlimmsten Moment in seinem Leben bezeichnet.»
Welches war Ihr schönster Moment als Pflegeeltern?
Marianne Zehnder: «Schön ist es, einen wertschätzenden, neunseitigen Brief von Michelles Mutter aus dem Gefängnis zu erhalten. Wir stehen zurzeit in Briefkontakt, weil ich ihre Angst gespürt habe, dass wir versuchen würden, ihr das Kind wegzunehmen. Sie schätzt unsere Fürsorge für ihre Tochter sehr, betont aber, dass sie dennoch Michelles Mutter ist und bleibt. Ich hoffe, dass sie der Namensänderung zustimmt und dass wir es alle gemeinsam schaffen, Michelle den Wunsch zu erfüllen.»
Welches Fazit ziehen Sie aus Ihrem Pflegeelternsein?
Marianne Zehnder: «Kein Kind ist besser in der Lage, dir den Spiegel vorzuhalten, als ein Pflegekind. Pflegekinder haben ein ausgeprägtes Gespür dafür, dich mit deinem eigenen Verhalten zu konfrontieren, im positiven wie im negativen Sinn. Das ist eine besondere Herausforderung am Pflegeelternsein. Mein Mann und ich empfinden das Pflegeelternsein inklusive Kontakt zu den leiblichen Eltern unserer Pflegekinder als grosse Bereicherung. Wir nehmen sie so, an wie sie sind – mit ihren Stärken und ihren Schwächen. Die asiatische Weisheit über den Sprung in der Schüssel ist ein passendes Sinnbild für das Pflegeelternsein: Eine alte chinesische Frau trug täglich zwei Schüsseln Wasser nach Hause. Eine Schüssel hatte einen Sprung, während die andere makellos war. Am Ende der Wanderung enthielt die Schüssel mit dem Sprung stets nur die halbe Portion Wasser. Zwei Jahre geschah dies täglich. Die Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war. Sie sprach über ihr endloses Versagen zu der Frau. Die wiederum lächelte nur und sagte: Ist dir nicht aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen und auf der Seite mit der anderen Schüssel nicht? Ich habe auf deiner Seite des Weges Blumensamen gesät, weil ich mir deiner Besonderheit bewusst war. Nun giesst du sie jeden Tag. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genau so wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren.»
* alle Namen geändert