«Wir möchten den Kindern eine Insel schaffen, die ihnen die schwere Zeit, die sie durchleben, erleichtert.»
SOS-Platzierungen erfolgen, wie die Bezeichnung schon impliziert, immer mit hoher Dringlichkeit, in der Regel kurzfristig, wenn das Kindeswohl gefährdet ist: Die Gründe hierfür können vielfältig sein. SOS-Pflegeplatzierungen sind immer befristet und erfolgen manchmal, wenn es zum Schutz des betroffenen Kindes erforderlich ist, verdeckt. Sie stellen hohe Anforderungen an die Flexibilität und das Einfühlungsvermögen der SOS-Pflegeeltern. Im Folgenden Interview mit einer SOS-Pflegemutter aus dem Jahresbericht von Espoir von 2019 erfahren wir, wie anspruchsvoll, aber auch bereichernd die zeitlich begrenzte Aufnahme eines Pflegekinds für die gesamte Familie sein kann. Das Gespräch wird anonymisiert wiedergegeben.
Wie viele SOS-Pflegekinder haben Sie bereits aufgenommen?
Seit 2013 sind wir als SOS-Pflegefamilie bei Espoir und haben in dieser Zeit ((bis 2019)) sechs Kinder im Alter zwischen 7 und 12 Jahren vorübergehend in unserer Familie aufgenommen, darunter auch Geschwisterpaare. Teilweise handelte es sich um verdeckte Platzierungen. In einem Fall wurden die gefährdeten Kinder von der Polizei aus der Familie geholt, von der Polizeistation in ein Kinderheim für Kleinkinder gebracht, wo man sie nicht behalten konnte und von dort in unsere Familie, nur mit dem Nötigsten ausgestattet.
Wie lange haben die Pflegekinder bei Ihnen gelebt?
Das waren sehr unterschiedliche Zeiträume von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Egal wie lange die Kinder bei uns waren, es war immer eine sehr intensive Zeit. Ein Geschwisterpaar war beispielsweise einen Monat bei uns, was uns letztendlich viel, viel länger vorkam. Diese intensive Zeit hat alle Familienmitglieder sehr gefordert, weil die Pflegekinder sich nach und nach aggressiver verhielten, vor allem gegenüber Mitschülerinnen und -schülern, bis hin zu Mobbing. Dieses Verhalten war auf ihre früheren traumatischen Erlebnisse zurückzuführen. Es stellte sich heraus, dass sie Gewaltanwendung unter den Eltern miterleben und jegliche Gefühlsregungen unterdrücken mussten. Die Kinder wurden dann anschliessend eng psychologisch betreut.
Was motiviert Sie für die Aufgabe als SOS-Pflegemutter? Welche Herausforderungen sind dabei zu bewältigen?
Ich bzw. wir als Familie möchten den Kindern eine Insel schaffen, die ihnen die schwere Zeit, die sie durchleben, erleichtert. Die Kinder befinden sich ohne ihr Zutun in schwierigen, belastenden Lebenssituationen. Ich möchte ihnen während ihres Aufenthalts in unserer Familie möglichst viel an Zuwendung, Halt und Struktur mitgeben. Es ist ein Geben und Nehmen, alle Beteiligten lernen aus diesem Zusammensein und wachsen auch daran. Ganz wichtig ist für mich jeweils die fachliche Begleitung durch die Koordination von Espoir, die entlastet.
Wie gelingt es Ihnen, wieder loszulassen, denn SOS-Platzierungen sind immer befristet, bis eine Anschlusslösung für das Kind gefunden wird?
Ich habe keine Probleme, wieder loszulassen. Wichtig ist, ein offenes Herz zu haben, das Kind anzunehmen, wie es ist und beim Abschied mit Gewissheit sagen zu können: «Ich habe alles für das Kind gegeben, was in meinen Möglichkeiten steht, nun muss ich es auch wieder gehen lassen und Vertrauen haben, dass es seinen Weg findet.» Beruhigend ist es, wenn eine gute Anschlusslösung gefunden wurde.
Wie nimmt Ihre Familie wechselnde temporäre Familienmitglieder auf?
Selbstverständlich sind unsere Kinder immer damit einverstanden, dass wir vorübergehend ein oder mehrere Pflegekinder in unsere Familie aufnehmen. Ich denke, sie profitieren von diesem temporären Zusammenleben und lernen, dass es auch schwierige Familienkonstellationen gibt, in denen den betroffenen Kindern und Eltern geholfen werden muss. Sie erkennen auch, dass
im Leben nicht alles selbstverständlich positiv verläuft. Es ist aber auch gut, dass wir zwischen den Platzierungen immer wieder Zeit für uns als Familie haben.
Was bleibt bei Ihnen zurück von einer SOS-Platzierung?
Manchmal blickt man wirklich in seelische Abgründe. Aber es bleibt auch immer die Erkenntnis, dass es uns als Familie jeweils gelungen ist, die Kinder mitzutragen bzw. alles in unseren Möglichkeiten Stehende getan zu haben, es zu unterstützen.
Welche besonderen Herausforderungen gibt es im Kontakt mit der Herkunft?
Es braucht Achtsamkeit und Feinfühligkeit im Umgang mit den Eltern, sofern der Kontakt zu ihnen besteht. Kommt es beispielsweise zu einem Treffen mit der Mutter, halte ich mich zurück und überlasse ihr den Lead im Umgang mit dem Kind, denn ich möchte nicht, dass sie mich als Konkurrenz betrachtet. Schliesslich fällt es keiner Mutter bzw. keinen Eltern leicht, ihr Kind wegzugeben. Als Pflegeeltern hast du keine Handhabe, das Kind nach aussen zu vertreten, obwohl du es Tag und Nacht betreust. Manchmal ist das nicht einfach. Entscheidungen, die das Kind betreffen, dauern manchmal länger, wenn ein Beistand und die Eltern zustimmen müssen. Ich wünschte mir manchmal, dass die Beistände auch unsere Meinung als Pflegeeltern stärker bei ihren Entscheidungen einbeziehen.
Welche Entwicklung können Sie bei sich als Pflegemutter seit Ihrer ersten Platzierung feststellen?
Ich habe mehr Ruhe entwickelt und lasse die Dinge auf mich zukommen. Ich habe mit Hilfe der begleitenden Koordination von Espoir gelernt, Situationen mit dem Pflegekind besser zu reflektieren und auch mal eine Aussensicht anzunehmen. Eine Supervision nach Beendigung des Pflegeverhältnisses gehört für uns als Familie inzwischen immer dazu. Diese hilft uns, das Erlebte nochmals zu reflektieren und richtig abzuschliessen. Ausserdem gehe ich inzwischen lockerer auf die Kinder zu und bin nicht so vorsichtig wie zu Beginn. Auch meine Familie pflegt einen normalen Umgang mit den Kindern und sie lernen mit jeder Platzierung dazu. Vor allem unsere Kinder lernen, dass nicht alles selbstverständlich ist im Leben.
Was würden Sie einer neuen SOS-Pflegefamilie raten?
Sie sollte nicht zu grosse Erwartungen haben und offen alles auf sich zukommen lassen. Ausserdem ist Geduld ganz wichtig. Es kann manchmal ein ziemlich emotionales Auf und Ab sein, bis es zu einer Platzierung kommt, bis die Behörden alle Umstände abgeklärt haben. Das muss man geduldig aushalten. Ist jedoch eine SOS-Platzierung einmal beschlossen, kann das Kind innerhalb von wenigen Stunden bei dir sein. Und ganz wichtig: Für eine gute Platzierung ist eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten notwendig, dazu gehören neben der Pflegefamilie die begleitende Koordination seitens Espoir, die jeweiligen Beistände seitens der Behörden, die Eltern (wenn möglich), die Lehrpersonen aus der Schule, die Verantwortlichen anderer Fördermassnahmen, zum Beispiel Therapeuten usw. Von einem gut gespannten Netzwerk kann das Kind am meisten profitieren.
Betreuen Sie zurzeit ein SOS-Pflegekind?
Nein, aber wir stehen bereit und würden uns freuen, wenn sich unsere Familie bald wieder vergrössern würde.